KREATION UND RAUM
- CHOREOGRAPH DER OFFENEN FORM
CREATION AND SPACE
- CHOREOGRAPHER OF THE OPEN FORM
von/by DUNJA BIALAS
'IN FELDERN' Photo: Ute Weihmüller
SCROLL DOWN FOR ENGLISCH
Wollte man seine Choreographien in Worte transkribieren, so könnte dies womöglich nur in einer langen, sich ausdehnenden, gleichmäßig und von der Syntax unbehelligt dahin fließenden Phrase geschehen, in die sich ein Nebensatz hineinwebt, um den Satz kurz darauf anzuhalten. Plötzlich würde eine markante Pointe auf sich aufmerksam machen, ein leicht angedeuteter Einfall aufkommen und schon wieder versiegen, als hätte man ihn verworfen. Dann eine überraschende Textbewegung, in einer lange dahin fließenden Bewegung würde sich eine weitere Phrase Bahn brechen, in einem fortgesetzten Travelling den Faden wieder aufgreifen, bis – plötzlich – das Ende erreicht ist.
Stephan Herwig, Choreograph und Tänzer, hat selbst schon umgekehrt das Wort als Basis seines aufsehenerregenden, weil komplett stillen Stückes „Rhythm & Silence“ genommen. Er hatte E. E. Cummings Grasshopper-Poem „r-p-o-p-h-e-s-sa-g-r“ den Tänzerinnen und Tänzern zur freien Interpretation überlassen, das Gedicht aufgeteilt in seine Zeilen, diese als Phrasen genommen, sie wiederholen und kombinieren, dann pausieren lassen, sie verlangsamt oder beschleunigt und im Echo gedoppelt.
Wie in diesem außergewöhnlichen Beispiel arbeitet Stephan Herwig mit seinen Tänzerinnen und Tänzern stets gemeinsam an der Genese seiner Choreographien. So auch bei seinem neuen Stück „In Feldern“, das er im heißen Sommer 2020 im Schwere Reiter in München auf den Weg bringt. In der Halle liegen auf einem Tisch seine Notizen, davor hat sich sein jungenhafter Körper buchstäblich um den Stuhl geschlungen, während er aufmerksam die Bühne verfolgt, immer wieder kurz das Geschehen anhält, Dinge klärt, Platzhaltermusik einspielt. Später wird ein eigens komponierter Score dazukommen, erzählt er, des Münchner Soundkünstlers Daniel Door. Zum ersten Mal arbeitet er mit einem Komponisten zusammen, sonst hat er immer selbst die musikalischen Moods herausgesucht – oder eben ganz auf Sound verzichtet, wie in „Rhythm & Silence“.
Die beiden Tänzerinnen auf der Bühne deuten Moves an, rekapitulieren das bereits Erprobte. Stephan Herwig aber ist keiner, der Stücke „einstudiert“. Ein magisches Band scheint ihn mit seinen Tänzerinnen zu verbinden, wenn er mit wenigen Erklärungen und Gesten sein Imaginäres andeutet und die Tänzerinnen es in ihrer Performance transformieren. Anna Fontanet (Barcelona) und Susanne Schneider (München), mit denen er bereits in „Rhythm & Silence“ zusammengearbeitet hat (Susanne Schneider kam für die Wiederaufnahme hinzu), verstehen ihn unmittelbar. Die Probe ist ein gemeinsamer Prozess der Suche, ein Probieren, schließlich ein Finden. „Vor der ersten Probe versuche ich so wenig zu wissen wie möglich“, sagt Stephan Herwig, „bis ich eine Struktur oder eine Idee gefunden habe, der ich Raum geben will.“ In der ersten kreativen Phase versuche er deshalb, alles, was ihm die Tänzerinnen und Tänzer anbieten, zuzulassen ohne gleich nach der künstlerischen Integrierbarkeit zu fragen. Mit dieser Offenheit involviert er die Tänzerinnen und Tänzer in den kreativen Prozess. Und auch wenn am Ende sein Name über dem Stück steht, weiß er, dass dieses anders geworden wäre, hätte er mit anderen Tänzerinnen und Tänzern gearbeitet. Die Tänzerinnen auf der Bühne bieten ihm jetzt fast sphinxische Bewegungen an, halten den Kopf starr und fixieren einander mit festem Blick. Karen Piewig, die in „Rebirth“ (2008) zusammen mit Stephan Herwig getanzt hat, sitzt neben ihm, macht Vorschläge, gibt Impulse, verwirft anderes, sie ist seit vielen Produktionen seine künstlerische Mitarbeiterin.
Selten findet Stephan Herwig die Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, in einer Audition. Anna Fontanet, mit der er seit „In This Very Moment“ (2012) zusammenarbeitet, ist eine Ausnahme. Meist hat er seine Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne erlebt oder gar unterrichtet, wie jetzt Giovanni Zazzera aus Luxemburg, den er für „In Feldern“ engagiert hat. Gaetano Badalamenti ist eine Empfehlung eines Kollegen, oder aber es sind Menschen, die er zunächst einfach nur sympathisch findet und von denen er weiß, dass sich ein lohnender Kreationsprozess mit ihnen anbahnen kann. Das ist wichtig, denn die angebotenen, in Improvisation probierten Moves nehmen erst allmählich Form an, während einer ausgedehnten Probenzeit, die im eigentlichen Sinne eine Probierzeit, eine Prozesszeit, bloße Werdung und Zeit der gemeinsamen Kreation ist.
Am Tag des Probenbesuchs sind nur zwei Tänzerinnen da. Auffallend ist die ausgewogene Geschlechtersymmetrie von zwei Frauen und zwei Männern, die auch schon in „Rhythm & Silence“ vorhanden war. „Ich wähle die Symmetrie bewusst, um die Geschlechter nicht thematisch werden zu lassen“, sagt Stephan Herwig. Eigentlich seien ihm Geschlechter egal. Er versuche vielmehr, die Paarkonstellationen auf der Bühne ständig zu wechseln, um die geschlechtliche Indifferenz auch strukturell deutlich zu machen.
Wichtiger als Gender ist ihm Space. Am Anfang eines Stückes sieht er den Raum vor sich und wie der Körper in diesem Raum agiert. Grundsätzlich gibt es für Stephan Herwig so auch keine „kleinen“ oder „großen“ Bewegungen, entscheidend ist die Verbindung des Raums um den Körper herum. So sind, wie Anna Fontanet und Susanne Schneider in der Probe wieder einmal deutlich machen, auch die Momente des Innehaltens wichtig, in denen Mikrobewegungen freigesetzt werden, eine zuckende Schulter, ein gerader Blick, eine sich aufspannende Hand des sonst zum Stillstand gebrachten Tanzkörpers. Dann wieder dynamisiert sich die Bühne, die Tänzerinnen loten den Raum aus, schrauben sich in einer Spiralbewegung in die Vertikale hinein, beginnen ein Travelling am Boden. Sie sind raumgreifend im starken Sinne: mit ihren Körpern nach dem Raum greifend, groß, ausladend, ganz und gar physisch und von starker Bühnenpräsenz. Blickrichtungen, Armbewegungen, Verdrehungen der Körper durchziehen jetzt die Bühne
wie magnetisierende Vektoren, die ein Netz der inneren Zusammenhänge aufspannen.
Das mag abstrakt wirken, Stephan Herwig aber wendet ein: „Menschliche Körper auf der Bühne können nicht abstrakt sein.“ Abstrakt sei jedoch, was er künstlerisch verhandeln will. Die pure Physis der Körper ganz ohne narrative Chiffren inszenieren, den Raum und die Zeit zur Aufführung bringen, ganz elementar und substantiell, und dabei unmittelbar verständlich sein wie die moderne Lyrik eines E.E. Cummings oder anschaulich wie die Partituren der konkreten Musik.
Tanz, Licht, Bühnenbild und Musik: Alle Komponenten der Inszenierung sollen gleichberechtigt wirken und prinzipiell für sich stehen können. „Ich suche nach einem Tanz, der ohne Musik funktionieren kann, ohne Licht und ohne Bühnenbild. Dasselbe erwarte ich auch vom Licht, von der Musik und dem Drumherum. Alles muss von sich aus stark genug sein.“ So ergibt sich entlang der unterschiedlichen Inszenierungselemente ein ausdrucksstarker Dialog der Formen, jedoch keine Illustration einer Narration oder eines Themas, in der sich das eine in den Dienst des anderen stellt.
Das erfordert ein aktives Zusehen und die produktive Deutung des Dargebotenen seitens des Publikums, das so in den kreativen Prozess involviert wird. Stephan Herwig interessiert, was jeder Einzelne darin sieht. Die Bilder und Ideen über das Wahrgenommene sollen sich dabei fortwährend wandeln können. „Situationen sollen sich ändern, aber nicht so, dass man einen genauen Zeitpunkt bestimmen kann, an dem dies passiert. Ich mag es, wenn man merkt, dass die Tänzer in einer anderen Stimmung angekommen sind und man aber nicht mehr weiß, wie sie da hingekommen sind.“
Das Prozesshafte der Kreation spiegelt sich in der Inszenierung, aber auch im Leben von Stephan Herwig. Als freier Künstler müsse er mit der Unbeständigkeit zurecht kommen und auch damit, dass er im Grunde abhängig ist, von Geldgebern, von Jurys, von einem Markt, in dem es auch in der zeitgenössischen Szene immer wieder einen erfolgsversprechenden Mainstream gibt. Davon hat er sich in den letzten Jahren losgemacht, als er ganz ohne Förderung Projekte realisierte, einen „Befreiungsschlag“ nennt er das. Jetzt geht er wieder mehr Risiken ein, macht nur das, was ihn künstlerisch wirklich interessiert. Er will sich auch nicht wiederholen, der Gedanke an „die eigene Handschrift“ ist ihm suspekt. Oft erkennt er erst im Nachhinein, wenn sich ein roter Faden zu seinen anderen Stücken aufgespannt hat, lieber will er sich auf unbekanntes Terrain wagen.
Wie jetzt mit „In Feldern“, das in der Zeit der Corona-Restriktionen entsteht. Beschränkungen begrüßt Stephan Herwig grundsätzlich, sie kanalisieren auf objektive Weise den künstlerischen Prozess. Im Moment könne er mit dem Abstand auf der Bühne gut umgehen. Schwieriger ist, dass auch eine Distanz zum Publikum entsteht, wenn der zwanglose Austausch nach der Vorstellung nicht mehr stattfinden kann. Zum ersten Mal hat sein Stück eine komponierte Musik und ein gebautes Bühnenbild (Mirella Oestreicher), auch daran sieht man, wie sich seine künstlerische Arbeit stets in alle Richtungen öffnet. Aber da gehört für ihn auch das Publikum dazu. Wenn kein gedanklicher Austausch mehr stattfinden kann, wird am Ende seine Kunst tatsächlich abstrakt werden, für seine Tänzer und für ihn als Choreographen.
|
Dunja Bialas ist Journalistin mit Schwerpunkt Filmkritik und Redakteurin des OnlineFilmmagazins „artechock“, außerdem Mitbegründerin des internationalen Filmfestivals UNDERDOX. Die zeitgenössische Münchner Tanzszene begleitet sie mit wachem Interesse.
|
|
'MONUMENT' Photo: Franz Kimmel